Wusstest du, dass es total okay ist, wenn dein Geist beim Meditieren abdriftet? Das dürfte für einige von euch da draußen eine große Erleichterung sein. Ja, es ist total ok. Und es gibt sogar einen Begriff dafür: Wenn wir dem Geist beim Meditieren erlauben abzudriften, dann praktizieren wir die Yin-Meditation.
Yin und Yang – zwei sich ergänzende Prinzipien
Jeder kennt das schwarz-weiße Yin- und Yang-Symbol. Das Schwarze mit dem weißen Punkt ist Yin. Es symbolisiert die Dunkelheit der Nacht, in der durch die Reflexion des Sonnenlichts durch den Mond dennoch etwas Licht enthalten ist. Der weiße Teil mit dem schwarzen Punkt ist Yang, der von der Sonne erhellte Tag, in dem durch den Schatten der Berge und Bäume etc. dennoch ein Fleck Dunkelheit steckt.
Kurz gesagt, verkörpert Yang das männliche Prinzip, das Tun, das Streben – während Yin das weibliche Prinzip verkörpert, das Sein, die Hingabe, das Loslassen.
Yin und Yang in der Meditation
Mir war die Klassifizierung in Yin- und Yang-Meditation bis vor Kurzem auch neu. Doch als ich während einer Weiterbildung bei der großartigen Katrin Knauth und dem fabelhaften Wolfgang Riedl von dem Konzept hörte, war auf einmal vieles ganz klar.
Wie im Yoga mit seinen verschiedenen Stilen gibt es auch in der Meditation Unterschiede und Meditation ist nicht gleich Meditation. Je nachdem, mit welcher Intention wir in die Meditation gehen, ist eine mögliche Unterscheidung die Trennung in Yin- und Yang- Meditationen. Der Unterschied ist subtil und doch sehr offensichtlich wenn man sich einmal damit befasst.
Entsprechend den oben kurz angerissenen Prinzipien sind Yang-Meditationen solche, bei denen wir etwas erreichen wollen, und sei es nur das Verweilen auf einem Fokuspunkt. Wenn wir uns hingegen erlauben, ganz frei zu fließen, ohne Instruktionen, ohne Ziel- oder Fixpunkt, dann praktizieren wir die Yin-Meditation. Wie in dem berühmten Symbol steckt in beiden jeweils immer auch ein kleines oder größeres Stückchen des anderen, eine 100% klare und eindeutige Abgrenzung gibt es nicht.
Die Sache mit dem Streben
In meinen offenen Meditationen (hier geht’s zu meinem Stundenplan) habe ich schon unzählige Male gesagt: „Wenn die Gedanken schweifen, nimm es wahr. Sei hier geduldig und wohlwollend mit dir selbst und hol dich sanft zurück. Das Abdriften passiert jedem und jeder von uns.” Diese Worte verurteilen zwar das Driften des Geistes nicht, doch das Ziel ist das Zurückkommen.
Der augenöffnende Punkt an der ganzen Sache war für mich die Erkenntnis, dass auch der Versuch, beim Atem zu verweilen letztendlich das Streben nach etwas ist. Aber: muss das denn immer sein? Nein. Wir können uns auch für die Yin-Qualität des Zulassens von ALLEM entschließen. Je nachdem, was unsere Intention beim Meditieren ist. Und darin liegt ganz viel Freiheit!
Die Yang-Meditation
Schauen wir uns zunächst die Yang-Meditation an, denn das ist die Form, die hier in unserer westlichen Welt am häufigsten gelehrt wird. In dieser Form sind wir dazu aufgefordert, etwas konkretes zu tun. Wir folgen einer Struktur und klaren eindeutigen Instruktionen. Unser Ziel ist es, an einem Fokuspunkt zu verweilen. Wenn der Geist abdriftet, ist das erstmal nicht schlimm – Stichwort: Geduld, Nachsicht und Wohlwollen gegenüber sich selbst – übrigens klassische Yin-Qualitäten, doch dazu später. Wenn man allerdings merkt, dass man abgedriftet ist, gilt es, zum Fokuspunkt zurückzukehren. Getreu der Intention, so aufmerksam, wach und konzentriert wie möglich zu bleiben. Tagträumereien will man hier eher vermeiden.
Beispiele für die Yang-Meditation: Shamatha-Meditation („Meditation des ruhigen Verweilens”), fast alle achtsamkeitsbasierten Meditationen, Bodyscan, teilweise Metta, teilweise Gehmeditation etc. (je nach Perspektive)
Typische Yang-Qualitäten
- Konzentration und Fokus
- Optimierung und Verbesserung
- Erreichen, Streben und Werdenwollen
- Kontrollieren
- Zielgerichtetheit und Ehrgeiz
Die Yang-Meditation in a nutshell:
- Praxis mit einer bestimmten Intention und/oder einem Fokus
- Aktives Element: Hier machen wir etwas: Fokus auf den Atem, ein Mantra, eine Visualisierung, eine körperliche Empfindung
Formen der Yang-Meditation
Bei dieser Art der Meditation richten wir unsere Aufmerksamkeit anhand einer bestimmten Technik auf ein bestimmtes Fokusobjekt aus. Das kann im Grunde alles sein:
- Atem
- Körperempfindungen
- Mantren oder Gebete
- Visualisierungen
- Das Betrachten eines Bildes, eines Objekts oder einer Kerze
- Das Nachdenken über kontemplative Fragen und Themen
Die Benefits der Yang-Meditation
- einige schärfen Fokus und Konzentration
- andere kultivieren Liebe und Mitgefühl
- wir trainieren alle Yang-Qualitäten des Geistes: Tun, Konzentration, Disziplin, Commitment, Standhaftigkeit, Achtsamkeit und Bewusstsein.
Die Yin-Meditation
Kommen wir nun zur Yin-Meditation. Diese Art zu Meditieren ist freier und offener. Wir erkennen dabei an, dass unser Bewusstsein mal wach und präsent ist, und sich auch mal verträumt auf Wanderschaft begibt … Feste Strukturen oder Vorgaben gibt es nicht. Alles, was sich zeigen mag, darf hochkommen.
Statt die Konzentration auf ein Fokusobjekt zu üben, wollen wir in dieser Praxis bestimmte Yin- Qualitäten kultivieren und allem, dem wir begegnen – Geräusch, Empfindung, Emotion, Gedanke – auf „yinige” Weise begegnen: offen, neugierig, annehmend …
Beispiele für die Yin-Meditation: Schreibmeditation, einfaches Sitzen, teilweise Gehmeditation (je nach Perspektive)
Typische Yin-Qualitäten
- Empfänglichkeit und Offenheit
- Zulassen und Nicht-Eingreifen
- Loslassen und Sein-Lassen (und sowieso fast alles, das mit lassen zu tun hat)
- Akzeptieren, Annehmen und Tolerieren
- Stille
- Sanftheit und Geduld
Die Yin-Meditation in a nutshell:
- Eher offen, passiv und frei
- Ohne Fokus. Ggf. kann eine Art „Landeplatz” spielerisch und locker genutzt werden. Diesen Landeplatz am besten schon vorher festlegen. Wir können auch eine Intention festlegen, mit welcher Yin-Qualität wir dem Erlebten begegnen wollen (das ist ein kleiner Yang-Aspekt im Yin)
Der Landeplatz in der Yin-Meditation
Als Landeplatz eignet sich alles, was sich auch als Fokusobjekt eignet: Atem, Wahrnehmung der Hände auf den Oberschenkeln, der Sitz / die Beine / Füße am Boden, Geräusche im Innen und/ oder Außen …
Aber Achtung: Wir wollen nicht ALLES akzeptieren und zulassen. Auch hier gilt das Yin-Prinzip der Sanftheit gegenüber uns selbst. Was bedeutet das?
Dass wir körperliche Schmerzen, innere Dramen oder zu intensive Emotionen nicht verstärken wollen. Wenn wir merken, etwas wird zu viel, dann hilft uns der Landeplatz, an den wir uns zurückholen und festhalten können. Ein anderes schönes Bild, das es aus meiner Sicht sehr gut trifft, ist das Bild einer Boje, an der wir uns festhalten können und die mit uns schwimmt.
Die Benefits der Yin-Meditation
- Verbindung zum inneren Kind, unserer Abenteuerlust und Neugier
- Selbstentfaltung statt Selbst-Optimierung
- Wir erleben Meditation ggf. noch mehr als etwas, das einfach sein darf, wo wir nichts
erreichen müssen. - Besseres Verstehen des Selbst: was geht eigentlich die ganze Zeit in mir vor?
- Kultivierung von Yin-Qualitäten: Akzeptieren, Annehmen, Tolerieren, Vertrauen, Erlauben, Zulassen, Beobachten, Sein, Entspannung, Geduld, Gelassenheit, Gleichmut, Empfänglichkeit, Weichheit, Behutsamkeit, Leichtigkeit, Sanftheit
Yin und Yang in Harmonie
Übrigens: aus daoistischer Perspektive brauchen wir im Leben immer beides. Wir brauchen Yin UND Yang, und zwar in einem harmonischen gleichberechtigten Gleichgewicht. Jedes ist in dem jeweils anderen enthalten, die Grenzen sind teilweise fließend und es kommt immer auf die Perspektive und den Kontext an. Außerdem gibt es dabei kein Richtig und Falsch, kein Gut und Böse beziehungsweise besser oder schlechter.
Wenn ihr euch die jeweiligen Yin- und Yang-Qualitäten anschaut, dann seht ihr, dass keine davon schlecht ist. Vielmehr ist jede davon je nach Kontext wichtig und richtig. Zu viel Yin ist auch nicht gut und man kann nicht immer nur alles annehmen. Manchmal brauchen wir eine richtig starke nach vorn gehende Kick-Ass-Attitude und Fokus. Da kommt dann das Yang ins Spiel, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Und anders herum. Es braucht eben die Balance. Und das auch ganz im Sinne der Selbstfürsorge.
Ich kann auch nicht immer nur Meditieren und Yin Yoga praktizieren. Als aktive Gegenkraft brauche ich Laufen an der frischen Luft, Hot Yoga oder ein knackiges Workout 🙂
Bedeutung dieser Unterscheidung
Viele Menschen glauben, sie müssen in der Meditation „etwas schaffen”. Dass sie es nicht richtig machen oder nicht können, wenn ihr Geist abdriftet. Aber: unser Geist wird immer driften. Egal nach wie vielen Jahren, egal mit wie viel Erfahrung.
Um den Menschen, gerade den Anfängern, die Angst und den Druck zu nehmen, ist es gut, sich bewusst zu machen, dass das absolut in Ordnung (und total menschlich) ist.
Am Ende geht es in der Meditation ja auch immer darum, uns selbst besser kennenzulernen und zu verstehen. Das geht mitunter besser, wenn wir uns anschauen, was in uns zum Vorschein kommt, wenn wir nichts bestimmtes tun und uns nicht z.B. am Atem festhalten.
Wie immer gilt: Probiere selbst aus, was dir wann – in welcher Gemütsverfassung, zu welcher Tageszeit, in welchem Kontext – am meisten zusagt. Und: was ist deine Intention? Für dich persönlich und oder auch für die Gruppe, die du anleitest.
Und jetzt zu dir! Hast du Erfahrung mit beiden Formen gemacht? Bist du ein Drifter oder magst du einen klaren Fokus lieber? Hast du einen festen Fokuspunkt oder ziehst du es vor, mit einem Landeplatz zu meditieren? Wenn ja, welchen wählst du am liebsten oder wechselt das je nach Lust und Laune?
Ich bin gespannt, von euren Erfahrungen zu hören!
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